Zuhörerei: Notiz Nummer 148
«Ich muss jetzt nach Hause gehen», sagt mir der Mann, an einem Donnerstagabend um halb zehn und unterbricht damit unser lebendiges Gespräch. «Ich habe morgen etwas vor.» Auf meine Nachfrage, was er denn vorhabe, bekomme ich folgende schöne Geschichte zu hören: «Immer am Freitagmorgen gehen entweder meine Frau oder ich zu unserem langjährigen Freund. Er hatte vor zwei Jahren einen schweren Hirnschlag. Seither spricht er nur schwer, kann kaum mehr lesen, braucht viel Pflege. Seine Welt ist wie halbiert. Die Worte sind halbiert. Ein Haus ist bloss ein Ha, ein Freund bloss ein Fre. Und wenn er zu lesen versucht, sieht er nur die Hälfte der Seite. Immer um neun Uhr morgens bin ich dort und verbringe ein paar Stunden mit ihm. Ich lese ihm aus dem Tagesanzeiger vor. Anhand der Schlagzeilen finden wir heraus, was ihn interessiert. Wenn meine Frau dort ist, bekommt er Romane vorgelesen. Wir machen das beide, weil er unser Freund ist. Und weil man sich doch gegenseitig unterstützt, keine Frage. Seine Frau pflegt und kümmert sich ständig und so kann in dieser Zeit in Ruhe auf den Markt gehen.»
Beatrice Stebler, notiert in der Zuhörerei unterwegs
