Zuhörerei: Notiz Nummer 136
Einen Augenblick nur, bevor wir uns üblicherweise fröhlich zuwinkend kreuzen, entscheiden wir uns, von unseren Fahrrädern abzusteigen. Vielleicht hat uns die Frühlingssonne für diesen Impuls erwärmt. Unser Gespräch fokussiert sich schnell auf die unfassbar traurige Geschichte einer jungen Frau, die sich unlängst das Leben genommen hat und die wir sehr vermissen.
„Ich habe Anfangs zwanzig völlig unerwartet einen sehr lieben Freund verloren“, sagt die Frau. „Ich vermisse ihn noch heute. Dieser Verlust geht nie weg. Ich frage mich immer wieder: Wo ist dieser Nullpunkt? Was fühlt man? Und wie es ist, wenn es dann ins Minus geht? Etwas in mir weigert sich, mir dies vorzustellen. Ich war so hilflos, habe die feinen Anzeichen erst nachher bemerkt. Es muss schrecklich sein, keine Perspektive mehr zu haben, keine Energie mehr zum Leben.
Wenn junge Menschen gehen, dann kann man das fast nicht verkraften. Man kann es drehen und wenden wie man will, es bleibt ein Rätsel. Und trotzdem ist es wichtig, dass wir ihre Entscheidung respektieren. Wir müssen miteinander über den Suizid sprechen. Auf der Strasse, im öffentlichen Raum. Es hilft, die Trauer wieder in Lebensfreude zu verwandeln.“
Die Frau schenkt mir aus ihrem Gemüsekorb eine Erdbeere und etwas Rhabarber. „Ein Hoch auf das Leben, ein Hoch auf unsere verstorbenen Liebsten!“ Wir schauen beide in die verschwenderischen Blütenbäume über unseren Köpfen. „Vielleicht sind unsere verstorbenen Freund*innen gar nie weg. Auf jeden Fall bleiben sie fest in unseren Herzen.“
Lena Estermann, notiert in der Zuhörerei unterwegs.
